Freitag, 15. Mai 2020

Häusliche Gewalt gegen Männer


H.
H. hat nie in seinem Leben auch nur einer Fliege was zuleide tun können.
Er hat sich nie geprügelt, hat nie seine Hand erhoben. Es wäre ihm vermutlich auch gar nicht möglich gewesen – die Hemmschwelle, die viele von uns kennen, welche uns daran hindert gewalttätig zu werden, war bei ihm stark ausgeprägt.
Und trotzdem fiel seine Partnerin über all die Jahre, mindestens drei Mal rücklings durch die Milchglasscheibe der Küchentür.

Der Ablauf war immer derselbe. H. kam nach Hause (oder das, was er für sein Zuhause hielt), meistens abgespannt und müde. Er setzte sich in die Küche, welche durch eine Tür mit Milchglasscheibe mit dem Wohnungsflur verbunden war.
Und fand sich überraschend in einer Stresssituation wieder.
Seine Partnerin, mal alkoholisiert, mal nicht, begann sofort auf ihn einzureden. Eindringlich.

Anlässe dafür bot H. sicher zu Genüge, aber das spielt jetzt weniger eine Rolle.
Ab einem gewissen Punkt in einem sowieso schon sehr einseitigen Gespräch, war immer mehr nur noch sie zu hören. Sie war laut, wiederholte sich, wurde dann und dort auch schon mal ausfallend, bis hin in den intimsten und privatesten Bereich.
Und dann wurde immer irgendwann der Punkt erreicht, an dem er darum bat, dass sie ihn in Ruhe ließ und, da das immer vergebens war, er schließlich gehen wollte.
Und sie ihn nicht gehen lassen wollte, stattdessen ihm den Weg versperrte und weiter auf ihn einredete, vielleicht sogar noch giftiger in einem eh schon toxischen Gespräch.
Nicht einmal sie selbst hat je bestritten, dass er einfach nur an ihr vorbei wollte.
Mindestens einmal gab es ein Gerangel, weil sie ihn festhielt und er sich losreissen wollte, aber meistens wollte er nur schnell an ihr vorbei und sie versuchte, wie ein Footballspieler, ihn aufzuhalten.
Und dann das Klirren, wie in einem Film, die Kinder blitzschnell im Wohnungsflur versammelt, sie am Boden zwischen den Scherben, er erstarrt und vor Überforderung und Schrecken wie gelähmt.
Und dann, da wie durch ein Wunder niemand verletzt wurde, flüchtete er durch die Wohnungstür in die Nacht hinaus.

Warum?
Ich schreibe diesen Text, weil ich den Eindruck habe, dass es Texte wie diesen noch nicht ausreichend gibt. Häusliche Gewalt, gerade in den heutigen Zeiten, ist glücklicherweise gerade… weniger wenig auf dem Schirm der Gesellschaft, als sie es sonst ist.
Aber folgt man den gängigen Erzählungen, so gibt es nur eine Opfergruppe – Frauen.
Laut den Kriminalstatistiken ist damit auch an die Mehrheit der Opfer gedacht – vier Fünftel aller Opfer häuslicher Gewalt, sind nun einmal Frauen, daran gibt es nichts zu deuteln.
Und u.A. deswegen gibt es Frauennotrufe, erteilen Polizisten Wohnungsverweise, gibt es Frauenhäuser – und all das noch viel zu wenig.

Aber
Ein Facebooknutzer aus Österreich schreibt:
Ein kleiner Aspekt aus der realen Welt:
Meine Frau ist dipl. Sozialarbeiterin und Bewährungshelferin.
Und es regt sie regelmäßig auf, wie unaufgeklärt Menschen, die mit Gewalt in Familien beruflich nicht tagtäglich konfrontiert sind, an die Sache rangehen. 
Gerade jetzt, in Zeiten des Lockdown, lief im österreichischen Fernsehen verstärkt Werbung für den Frauennotruf. Diese Werbung stellte eine stereotype Prügelsituation dar, in der - natürlich - der rohe, unkontrollierte Mann die arme, hilflose Frau verdroschen hat. Am Ende sah man in Großaufnahme das blutig geschminkte Gesicht der Frau, darunter eingeblendet die Telefonnummer. 
Der berufliche Alltag meiner Frau erzählt eine andere, ignorierte Geschichte. Statistiken sind mit Vorsicht zu genießen, weil Männer, die verprügelt werden, ein Identitätsproblem haben. Die Scham ist noch größer als bei Frauen, und solche Werbungen verstärken noch das Gefühl, man hat in der Welt der Opferhilfe als Mann nichts verloren. Bitte alle die Hände hoch, die schon mal einen breitenwirksamen Spot für männliche Opfer häuslicher Gewalt gesehen haben. Keiner? Dachte ich mir. Aber es gibt sie. Mehr, als die "Statistik" erfassen kann, weil sie sich schlicht nicht an irgendjemand wenden (können?). Meine Frau erzählte mir, wenn sich Männer tatsächlich über die Schwelle trauen, den Notruf zu wählen, der ihnen im Fernseh-Spot offeriert wird, werden sie schroff darauf hingewiesen, an der falschen Stelle zu sein.

Männer als Opfer
Ein Fünftel aller Opfer häuslicher Gewalt sind Männer. Dabei wird allgemein von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen.
Aber selbst das ist schon deutlich mehr als nur eine Ausnahme von der Regel. Das ist zum Beispiel ungefähr das Doppelte des Anteils, den Ausländer an der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschlands haben.
Es ist ungefähr das Dreifache des Anteils der Menschen, die in Deutschland blond zur Welt kommen.
Also beileibe keine vernachlässigbare Größe.
Doch finden wir diesen Umstand in der dazu gehörigen Debatte entsprechend repräsentiert?

Ich denke: Nein, das kann man so nicht sagen.
Man sieht den Fall bestenfalls oft eingeräumt, so wie ein exotisches Ereignis, pflichtschuldig erwähnt um sich dann doch wieder der größeren Opfergruppe widmen zu können.
Wir sehen keine Plakatwände oder Werbespots die auf Männernotrufe hinweisen und was Männerpendants zu Frauenhäusern angeht – als ich das letzte Mal gegoogled habe, konnte ich sie mit Fingern und Zehen abzählen.
Plätze. Nicht Häuser.

Opfer sein - verboten
Am Erheblichsten empfinde ich jedoch die mangelnde Akzeptanz von Männern als Opfer.
Die bloße Erwähnung von Männern als Opfer häuslicher Gewalt, bringt dir in entsprechenden Diskussionen, Reaktionen ein, die von einem müden Lächeln bis zur offenen Anfeindung reichen.
Gerade von Frauen.

Der Gedanke von Frauen als Täterinnen und Männern als Opfer erscheint manchem interessierten Diskutantenmenschen höchst unangenehm zu sein.
Das einer Frau, die selbst einmal Opfer häuslicher Gewalt geworden ist, es schwerfällt, Verständnis für Opfer aus der Gruppe aufzubringen, aus welcher ihr Täter stammt, kann ich durchaus nachvollziehen.
Warum man jedoch zu dieser Thematik, pauschal auf so eine aggressive Empathielosigkeit stößt, entzieht sich meinem Verständnis.
Empfinden Opfer nicht normalerweise Solidarität mit anderen Opfern?
Warum ist das hier anders?

Die Antwort lautet meiner Meinung nach: Rollenverhalten.

Das Opfer Frau empfindet keine Solidarität für das Opfer Mann, da sie selbst geschlechtsspezifische Stereotypen vertritt.
Und damit wäre dann der Punkt erreicht, an dem wir erkennen, dass es bei häuslicher Gewalt nicht wirklich immer um häusliche Gewalt geht.
Vielmehr wird das Thema immer auch mit anderen Genderthemen in Verbindung gebracht, die alle gemeinsam haben, dass Nichtmänner in unserer Gesellschaft strukturell benachteiligt werden.
Da geht es dann auch um Themen wie Genderpaygap, Sexismus, „Männerbünde“, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, bis hin zu der (linguistisch nicht unumstrittenen) These, dass schon die Sprache Nichtmänner unterdrückt.

Die pauschale Verortung von Männern als Tätern und die (nicht immer scherzhaft gemeinte) Deklaration von Frauen als „die besseren Menschen“, hat für Jene die das verfolgen den Vorteil, dass ein komplexes Thema vereinfacht und eine schuldige Gruppe gefunden wird.

Meiner Meinung nach, ist es anstelle dessen eigentlich ziemlich unstrittig, dass „Gender“ etwas ist, welches beständig von allen Beteiligten konstruiert wird – eine ganz oder teilweise von Männern dominierte Welt, ist meiner bescheidenen Ansicht nach, schon aus mathematischen Gründen nicht ohne die Mitarbeit von Frauen aufrecht zu erhalten.
Natürlich darf das nicht zu Täter-Opfer Umkehrungen führen – aber die pauschale Deklaration eines Geschlechts als Täter, ist mindestens genauso rückständig und kontraproduktiv wie die Ansicht, Frauen gehörten zuhause an den Herd.
Vielleicht bedingt das Eine das Andere sogar.

Doch bevor ich mich nun ebenfalls in der diffusen Themenvermengung zu lange aufhalte, möchte ich wieder zur häuslichen Gewalt zurück.

Back to topic
Männer werden also auch Opfer häuslicher Gewalt, aber es wird ihnen nicht zugestanden.
Nicht wirklich.
Das beginnt schon beim Gewaltbegriff, der in dieser Hinsicht vergleichsweise willkürlich, auf die Anwendung körperlicher Gewalt bezogen ist.
Und ja, die 20% Männeropfer sind Opfer körperlicher Gewalt.
Nehmen wir H. aus dem Eingangsbeispiel einmal.

Gemäß des üblichen Gewaltbegriffs, ist nur eine Person in der Geschichte gewalttätig geworden – H.. Sei es durch ein Rempeln oder den Versuch sich vorbei zu drücken – er ist derjenige, der seine Partnerin durch die Küchentürscheibe befördert hat.
Der Vorlauf hat gemäß diesen Gewaltbegriffs, nichts mit Gewalt zu tun.
Weder der Umstand, dass sie ihn zuvor am Gehen gehindert hat, noch das Einreden ohne Unterlass.
Jeder halbwegs achtsame Mensch, sieht darin sicher eine Übergriffigkeit.
Aber Gewalt?
Sicher bin ich mir darin auch nicht, aber Fakt ist, dass permanentes Einreden oder das Nicht-zur-Ruhe-kommen-lassen oder permanente Beschallung, der sich das Opfer nicht entziehen kann, zu den profunden Verhör und Foltermethoden zählen, die z.B. in Guantanamo angewendet werden.

Ich will nicht jede Gewalttat mit einem etwaigen Vorlauf entschuldigen. Mir geht es um Opfer, nicht um Täter – wobei, zur Vermeidung von Gewalttaten es sicher prinzipiell Sinn machen würde im Hinterkopf zu behalten, dass Opfer auch Täter werden können.
Aber auf den Opferaspekt geschaut, wer ist in dieser Geschichte eigentlich Opfer geworden?
Meiner Meinung nach, ist es H. gewesen.
Er wurde bedrängt, er wurde beleidigt und ihm wurde über Stunden nicht die Möglichkeit gegeben, sich zurück zu ziehen – und das auch noch in seinem „Zuhause“, seinem Ruheort und Schutzraum.

Glücklicherweise hatte H. damals noch ein Zimmer bei seinen Eltern. Ich habe mich oft gefragt, was gewesen wäre, wenn er dauerhaft überhaupt keinen Fluchtort gehabt hätte.
Einen Ort an den er sich wenden kann, gab es damals in GE für Männer jedenfalls nicht. Es gab auch keine Hotline. Und die Polizei – hätte diese seine Partnerin der Wohnung verwiesen, für das was diese mit ihm getan hat?
Stattdessen fuhr er Nachts vor Wut gegen Verkehrsschilder. Er ging in Spielhallen.
Das war es, was die Gesellschaft für Opfer wie H. an Hilfe zu leisten imstande war.
Und, mit Verlaub, sonderlich viel hat sich daran nicht geändert.

Männer haben enorm höhere Selbstmordquoten als Frauen.
Ihr Opferanteil an häuslicher Gewalt wird nicht im entferntesten in der Debatte um häusliche Gewalt berücksichtigt.

Häusliche Gewalt trifft weit mehrheitlich Frauen und es wird zu wenig dagegen getan.
Häusliche Gewalt trifft minderheitlich, aber nicht unerheblich, Männer und es wird gar nichts getan.

Das zu Schreiben ist mir schwer gefallen, denn auch ich habe das so in mir drin und bekomme es so vermittelt: Männer sind Täter.
Männer sind keine Opfer.
Wer Männer als Opfer deklariert, relativiert das Opfertum von Frauen.
Wer häusliche Gewalt gegen Männer thematisiert sehen möchte, ist rückständig und antifeministisch.
Und es fällt mir schwer zu glauben, dass dieser Text nicht ohne Argwohn gelesen wird – dass er wie Texte über Häusliche Gewalt gegen Frauen gelesen wird. Das in ihm nicht nach vermeintlichen Relativierungen Ausschau gehalten wird.

In der Parteipostille der GRÜNEN war vor kurzem eine Diskussion… mit… drei(?) Frauen und einem Mann. Der Mann, Sozialarbeiter in einem Männerprojekt, erwähnte das Männer auch Opfer werden können.
Die Erwiderung einer der beteiligten Damen war: „Jetzt spricht ja wieder nur der Mann!“
Als Angehöriger des Tätergeschlechts, darf ich also eigentlich noch nicht einmal darüber schreiben.

Da Frauen es aber im Allgemeinen nicht tun, habe ich es trotzdem getan.

Letzter GedankeIn einem Sachverhalt, in dem es nur Täter und Opfer geben kann, sollte es niemandem verwehrt sein, gesichtswahrend Opfer sein zu können, wenn er zum Opfer geworden ist.